Kaum ein Viertel ist so von Fußball geprägt wie Giesing, die Heimat des Vereins 1860 München. Zwischen Grünwalder Stadion und urigen Fußballkneipen wird hier noch wahre Fußballkultur gelebt. Besonders deutlich wird das an einem klassischen Spieltag, wenn die Menschen des Viertels zu Fuß ins Stadion gehen können und der Lärm der Fans die ganze Nachbarschaft durchdringt.
Es war ein lauer Sommerabend 2017, der zu einem wahren Volksfest geriet. Darauf hatten die Fans 4333 Tage gewartet. Tausende pilgerten an diesem Abend ins mehr als 100 Jahre alte Grünwalder Stadion auf Giesings Höhen, blaue Trikots zur Lederhosen, einige trugen ihre Kinder auf den Schultern und hatten Tränen im Gesicht: Jetzt kann auch der Bua endlich einmal die Sechziger in ihrer wahren Heimat sehen. Denn die verlorenen Söhne waren zurückgekehrt: Der TSV 1860 München spielte wieder dort, wo sie hingehören, nicht mehr in der Allianz Arena, die man sich mit dem Stadtrivalen FC Bayern geteilt hatte.
Nach dem Fall von Liga zwei in Liga vier meldeten sich 2000 neue Mitglieder an, nur 200 traten aus.
Kurioserweise war dieser Freudentag die Folge eines existenzbedrohenden Abstiegs. Über ein Jahrzehnt lang hatte der Verein versucht, bei den ganz Großen mitzuspielen, und war krachend gescheitert. Die Rückkehr mit einem 3:1-Sieg gegen Wacker Burghausen wurde in der vierten Liga gefeiert. Im Amateurfußball. Doch das war den meisten erst mal völlig wurscht. „Raus aus der Arena“, das hatten sie sich schon immer singend gewünscht. Zurück ins „Sechzgerstadion“, einer der urigsten Fußballorte der Republik.
An seiner Südseite ist es eingegrenzt von niedlichen Gartenzäunen, an der Ostseite von Häusern, aus denen seit der Nachkriegszeit die Menschen von der Fensterbank aus zusehen, wenn die Löwen spielen. Jetzt konnten sie das also wieder tun, zum Beispiel aus der berühmten „VIP-Lounge“, einem Dachlukenfenster. Die Euphorie, die während der Rückkehr ins heimische Stadtviertel herrschte, war 2017 übrigens auch messbar: Nach dem Fall von Liga zwei in Liga vier meldeten sich 2000 neue Mitglieder an, nur 200 traten aus.
Wohl kein anderer Verein ist so sehr in einem Stadtteil verhaftet wie der TSV 1860 München, der schon 1911 Heimspiele an der Grünwalder Straße austrug. Die Identifikation geht so weit, dass einem Großteil der Fans die Heimat wichtiger ist als die offizielle Spielklasse: Das Sechzgerstadion ist nämlich nicht bundesligatauglich. Damit passen die Löwen gut in einen Stadtteil, der sich viel lieber über seine Bodenständigkeit definiert als über klassische Münchner Must-see-Attraktionen.
Wer München also von seiner natürlichen Seite kennenlernen will, besucht am besten den Grünspitz nach einem Heimspiel der Sechziger. Es ist Sommer 2021, die Sechziger konnten in der Zwischenzeit wieder einen Aufstieg feiern, das Stadion war permanent ausverkauft. Wegen der Pandemie waren weitere 511 Tage Zwangspause angesagt, ehe sie wieder hinein und nach dem Schlusspfiff die Gegend ums Stadion bevölkern durften.
Gerade ist der Saisonauftakt gelungen, ein spannendes 1:0 gegen die Würzburger Kickers, und ganz schnell ist vieles wieder wie vorher: In den Kneipen wird fleißig Bier ausgegeben, besonders beliebt bei den eingefleischten Fans sind etwa der Trepperlwirt gleich gegenüber dem Stadion oder das Riffraff, das in Richtung der U-Bahn-Station Silberhornstraße liegt. Manche holen sich dort auch nur eine „Weghoibe“, um dann am Grünspitz das Spiel ausgiebig zu analysieren.
Hunderte stehen herum, Bierflaschen knallen aneinander, viele lachen. Alle scheinen sich schon ewig zu kennen. Viele kommen aus Giesing, einige aber auch von weit her. Erich aus der Schweiz hat es bei einem München-Besuch im Jahr 1994 „gepackt“, wie er sagt. 1860 sei ein „Mythos“. Doch selbst der Weitgereiste sagt: „In der Zeit im Olympiastadion und in der Arena war ich nicht so oft hier. Ich habe mich richtig gefreut, als Sechzig abgestiegen ist und damit wieder in Giesing spielt.“
Ein junger Mann mit Filzmütze kommt vorbei. Er hat eine lebensgroße Pappfigur mitgebracht, auf der „Resi Stenzia“ zu lesen ist. Ein Fantasiename, der sich aber auch ein bisschen liest wie das lateinische „Widerstand“. Die „Aktionsgruppe Untergiesing“ will bald die Bronzestatue einer fiktiven Arbeiterfrau aufstellen, als Mahnmal für die traditionellen Wurzeln des Stadtteils. Der Aktionist war zugleich aber auch sehr aktives Mitglied der recht berüchtigten 1860-Ultra-Gruppierung Cosa Nostra.
Neben ihm steht der zehnjährige Silas, der mit seinem Vater da ist. Er findet am Stadionbesuch einfach toll, „dass du in zehn Minuten hergeradelt bist“. Er war schon oft dabei, kann seinen Sitzplatz auswendig runterbeten („Stehhalle, Block O, Reihe 17 …“) und findet, dass das Sechzgerstadion eben „nicht aussieht wie eine Kloschüssel“. Damit meint er die Fußballarenen moderner Prägung.
„In der Zeit im Olympiastadion und in der Arena war ich nicht so oft hier. Ich habe mich richtig gefreut, als Sechzig abgestiegen ist und damit wieder in Giesing spielt.“
Die Freunde in der Schule, sagt er ernst dreinblickend, seien „meistens Erfolgsfans“. Damit wiederum meint er natürlich: Bayern-Fans. Silas trägt ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Red bastards“. Vom Papa zum Löwenfan erzogen? Gewiss. Aber an jungen Fans wie Silas zeigt sich, wie wichtig es für den Verein war, zurückzukehren nach Giesing: Zur Arena würde er niemals radeln, die Identifikation würde fehlen. In der Schule hat er auch schon ein Referat über die Geschichte des Stadions gehalten.
„Seit 2017 geht’s mir wieder gut hier“, sagt kein Geringerer als Axel Dubelowski, den alle als „Löwenbomber“ kennen – und andere Einheimische auch als langjährigen Türsteher des legendären Atomic Café in der Innenstadt. Der Bomber wohnt in Untergiesing, Ehrensache, im Sommer 2021 hatte der Endvierziger via App gezählte 1171 Spiele seines Lieblingsklubs gesehen. Gegen Würzburg stand er allerdings nicht wie Silas in der Gegengerade namens Stehhalle, sondern erstmals wieder in der Westkurve. „Das ist noch mehr wie heimkommen“, freut er sich, denn es weckt Jugenderinnerungen.
Von der Großmannssucht, die kurzzeitig eine Mehrheit gefunden hatte im Klub, hält er nicht viel. „Wenn man früher durch die Arena gelaufen ist, hat man kaum jemanden getroffen, den man kannte. Wenn du heute vor oder nach einem Heimspiel in Giesing aufschlägst, triffst du so viele Menschen, die du auch gerne wiedersehen willst. Das ist einfach nur schön“, sagt Dubelowski.
Franz Beckenbauer, so will es die Legende, habe sich damals für den FC Bayern entschieden, weil er bei einem Jugendturnier von einem Sechziger eine Watschen bekommen habe.
Es gibt sie schon, die Fans, denen ein Stadtteilklub zu provinziell ist. Man sei doch nicht der FC Giesing, sagen sie, sondern der große TSV 1860, der 1966 die Deutsche Meisterschaft gewann! Aber am Grünspitz ist man gerne einfach ganz normal. Vielleicht wären die Sechziger heute erfolgreicher, wenn sich der Kaiser seinerzeit für die Blauen und nicht für die Roten entschieden hätte. Franz Beckenbauer, so will es die Legende, habe sich damals für den FC Bayern entschieden, weil er bei einem Jugendturnier von einem Sechziger eine Watschen bekommen habe. Sein Geburtshaus ist nur wenige hundert Meter von Stadion und Grünspitz entfernt.
Ja, auch der FC Bayern hat hier seine Wurzeln, und deren zweite Mannschaft spielt auch im Grünwalder. Doch wer die Zugspitzstraße 6 für ein Souvenirfoto besucht, der entdeckt meistens auf dem Klingelschild einen Sechzig-Aufkleber. Beckenbauer mag vielleicht der beste deutsche Fußballer aller Zeiten gewesen sein. Aber Giesing ist nun mal blau.